Yanjiao als Wartezone – Künstlerische Reflexionen 2015–2025

Am 08.11.25 Initiiert von Yun Feng

2015 Januar 20 zog ich von 望京(Wangjing) nach 燕郊(Wangjiao) um. Damals studierte ich im Master an der 中央美术学院(Zentralakademie der bildenden Künste, CAFA) im Campus Wangjing. Vor dieser Zeit war ich bereits zwei- oder dreimal in Yanjiao gewesen, jeweils wegen einer Ausstellung im unabhängigen Raum ON‑SPACE.
Dieser Raum wurde von einer Gruppe junger Künstler:innen organisiert und zeigte vier-bis fünfmal jährlich große Gruppenausstellungen. Während meiner Teilnahme lernte ich viele Künstler:innen meines Jahrgangs kennen – wir unterhielten uns die ganze Nacht, tranken Tee, manchmal spielten wir auch Spiele – und ich hatte das starke Gefühl, dass die Zukunft voller Hoffnung sein könnte.
Kürzlich zog auch mein Freund 李海光 nach Yanjiao. Wir begannen zuerst ein Kunst­raumprojekt, später kooperierten wir direkt bei der Erstellung von Arbeiten – fast alle entstanden im Umfeld von Yanjiao.
Nach zwei-drei Jahren hatten wir an verschiedenen Ausstellungen teilgenommen. Diese Phase war zugleich die Blütezeit der unabhängigen Räume in Beijing und wir bewegten uns häufig in diesen Randbereichen.

Um das Jahr 2017 herum nahmen die Aktivitäten von ON-SPACE mit den Lebens- und Studienveränderungen der Mitglieder langsam ab.
Bis 2018 bereitete sich Haiguang auf einen Aufenthalt in Deutschland vor und ich trat wieder in eine Phase des Alleinarbeitens ein. Es war eine schwierige Anpassungsphase, und erst mit dem Beginn der Pandemie fand meine Arbeit langsam wieder Stabilität. Aufgrund der Pandemie wurde Yanjiao zu einem oft unpraktischeren Lebensort, und ich begann erneut zu wandern – auf der Suche nach einem passenden Aufenthaltsort.
Von 2019 bis 2022 lebte ich zeitweilig in Beijing Shunyi, Chengdu, Chongqing, Yunnan, Thailand und vielen anderen Orten. Yanjiao wurde zur Zwischenstation, die ich alle paar Monate aufsuchte, um Blumen zu gießen oder eine Pause einzulegen.

Im Herbst 2020 war ich in 西双版纳 im Residency-Programm. Seit dieser Zeit betrachte ich eine kleine Stadt dort als meine geistige Heimat.

Anfang 2023, wenige Monate nach dem Ende der Pandemie-Lockdowns, führte ich im 蔡锦空间(Cai Jin Space) in Beijing die Ausstellung „有多少爱可以重来“ durch. Diese Ausstellung reagierte auf die Isolation der Menschen während der Pandemie und reflektierte zugleich meine eigenen Lebensveränderungen.
Nach der Pandemie hatten viele meiner vertrauten Freund:innen Yanjiao verlassen. Natürlich zogen auch neue Freund:innen dorthin – Yanjiao erlebte eine neue Welle von Kunst-Räumen. Alles blühte auf, aber gleichzeitig fühlte sich vieles fremd an.

Im September 2025, während meines Aufenthalts in Duesseldorf, verkaufte mein Vermieter dringend seine Wohnung. Der Preis war bereits unter seinem ursprünglichen Kaufpreis gefallen, und das bedeutete für mich: Ich musste das Atelier verlassen, in dem ich über zehn Jahre gearbeitet und gewohnt hatte.
Für mich war und ist Yanjiao stets ein großer Wartebereich – wie jener riesige, ständig erweiterte Kontrollpunkt –, durch den hoffnungsvolle Menschen kommen und gehen.
Diesmal in Berlin möchte ich mit euch meine über zehnjährige Erinnerung an das kreative Leben in Yanjiao teilen: Gemeinsam reden wir über den Umzug von Wangjing nach Yanjiao, über die Goldene Ära der Kunst-Räume, über Wanderung und Driften, über emotionale Nachwirkungen der Post-Pandemie-Zeit sowie einige Gedanken, die ich während meines Aufenthalts in Düsseldorf hatte… Ich freue mich auf eure Teilnahme.

„Der Chaobai-Fluss – in den unzähligen Tagen der Langeweile meiner letzten Schaffensjahre spazierte ich oft an seinem Ufer.“ — Yun Feng

Im Sommer 2021 schuf der Künstler Yun Feng am Ufer des Chaobai-Flusses (潮白河) eine Werkreihe mit dem Titel „The Setting Sun Series“.
Er verwendete die alte fotografische Technik des Cyanotypie (Blaudrucks), um Licht und Schatten, Pflanzen und Stacheldraht auf Papier zu bannen.
Dreißig blaue Bilder entfalten sich wie eine „blaue Mauer“ zwischen Erinnerung und Wirklichkeit – still, tief, doch unmöglich zu übersehen.

Yanjiao, nur durch einen Fluss von Beijing getrennt.
Dieser Fluss ist die Lebenslinie, die unzählige Pendler täglich überqueren – die einen in die Stadt, die anderen zurück in die Vorstadt.
Yun Fengs Kunst wächst genau zwischen diesen beiden Orten.

Nach dem Ausbruch der Pandemie erschien am Flussufer ein Stacheldrahtzaun.

„Er hinderte mich am Weitergehen, so wie er auch die dreihunderttausend Pendler aufhielt, die täglich zwischen beiden Orten reisen“, schrieb Yun Feng.

Diese Mauer war nicht nur eine administrative Grenze, sondern auch eine seelische Trennung.
Er ging entlang des Zauns, fotografierte, beobachtete und maß Zeit und Raum neu – in Schritten, die durch Restriktionen gebunden waren.
Der Zaun definierte Ordnung und Grenzen; das Leben wurde neu eingeteilt, selbst das Sonnenlicht bekam eine neue Zugehörigkeit.
Jeder Blaudruck ist ein Echo des Widerspruchs:

Das Licht erzeugt Schatten, der Schatten bewahrt das Licht; das freie Licht durchdringt das kalte Metallnetz.

Die Ulme

Bei einem Spaziergang entdeckte Yun Feng eine kleine Ulme, die durch eine Lücke im Stacheldraht wuchs.
Diese Szene erschütterte ihn – der Baum wuchs in Fesseln und kämpfte, um zum Licht zu gelangen.

„Ich stellte mir vor, dass er eines Tages zu einem riesigen Baum heranwächst und den ganzen Zaun mit sich in den Himmel trägt.“

Doch im Herbst 2022 stellte er fest, dass der Baum gebrochen war.

„Als ich während der mehrmaligen Abriegelungen in Yanjiao eingeschlossen war, dachte ich an diesen kleinen Baum.
Er hat keine Füße. Ich dachte an den Wind, an das Licht, an die Vögel – sie alle können frei über das Land ziehen.“

Heute klammern sich seine vertrockneten Zweige an das Metallnetz – wie in einem letzten, feierlichen Ritual.

„Er hat das geliebt, was sein Wachstum verhinderte – er liebte schmerzhaft. Viele fragten mich: Willst du gehen?
Ich denke, ich muss zuerst verstehen, was Liebe ist.“

In diesen fast hundert Metern langen Bildern sind die Spuren von Draht, Pflanzen und Licht in Originalgröße auf Papier gebannt.
Das Sonnenlicht kam aus der Richtung Beijings und fiel in Yanjiao – es war zugleich Medium der Entwicklung und Zeuge des Geschehens.

Der Wind des Chaobai-Flusses weht noch immer.
Vielleicht ist die Mauer nicht mehr da, doch ihr Schatten bleibt in den Herzen aller, die sie erlebt haben.
Und vielleicht – ist Kunst genau dieses Licht, das durch den Stacheldraht dringt.

Diese Woche in Berlin

Wir laden den Künstler Yun Feng zu einem persönlichen Gespräch in Berlin ein.
Gemeinsam sprechen wir über das Leben in Yanjiao, über seine künstlerische Arbeit sowie über seine Gedanken zu Zeit, Freiheit und dem Selbst.

Veranstaltungsdetails

Datum & Zeit: 2025 November 8 (Samstag) 19:30
Ort: Berlin Mitte (genauere Adresse wird nach erfolgreicher Anmeldung per E-Mail mitgeteilt)
Teilnehmerzahl: Max. 15
Kosten: 5 € * Studentinnen 3 € Mitgliederinnen des Vereins frei Anmeldung & Teilnahme
Anmeldungslink**

Initiator

云峰 Yun Feng

Geboren 1988 in Henan. 2011 Abschluss im Fach Malerei an der 新疆师范大学 Kunstakademie. 2016 Abschluss an der Experimental Arts School der Zentralen Akademie für Bildende Künste (CAFA). Derzeit lebt und arbeitet er in Beijing. Seine Haupt­arbeitsformen sind Performance-Art und Material-Schatten­Fotografie. Er betreibt langfristige explorative Praxis im Bereich kamera-loser Bildgebung, bei der das Fotopapier als Material benutzt wird, um Spuren körperlicher Interaktion sichtbar zu machen.